Erinnerungskulturelle Einordnung
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Autor: Lisa Maria Hofer / Redaktion Stiftung Digitale Spielekultur (Christian Huberts)
Lisa Maria Hofer, MEd. studierte 2019 Deutsch und Geschichte (Lehramt) an der Universität Salzburg. von 2017 bis 2019 freie Historikerin; seit 2020 Lehrerin (HTL); seit 2021 Dissertantin an der JKU Linz.
In Anne Frank House VR durchwandert der/die Spieler*in das sogenannte Hinterhaus, in welchem sich Anne Frank gemeinsam mit ihrer Familie und vier weiteren Personen vor den Nationalsozialisten und der Bedrohung von Leib und Leben von 1942 bis 1944 versteckten. Das Spiel wurde von dem Anne Frank Haus in Amsterdam produziert und nutzt Virtual-Reality-Technologie, um eine möglichst immersive Erfahrung der historischen Räumlichkeiten zu ermöglichen. Der/die Nutzer*in bekommt zu Beginn eine kurze historische Einführung in Form eines Videos bzw. von eingeblendeten Fotografien und erkundet anschließend die Räume des Verstecks. Durch Hand- und Fußsymbole in der Umgebung werden Möglichkeiten zur Interaktion markiert und der Weg durch die Räume weitgehend linear vorgegeben. Werden Objekte gegriffen, lassen sie sich aus nächster Nähe betrachten und man bekommt zusätzliche Informationen dazu. Als Nutzer*in geht man so durch Anne Franks Perspektive als Voice-Over-Erzählerin sowie durch Auszüge aus ihrem Tagebuch geleitet durch das Spiel und bekommt so einen unmittelbaren Eindruck über den Alltag und das Leben im Versteck.
Spielung
Erinnerungskulturelle Bedeutung
Das Tagebuch der Anne Frank ist nicht nur im Schulkanon angekommen, sondern auch in der historischen Forschung von großer Bedeutung, da es nur wenige Quellen zu verfolgten Jugendlichen im Nationalsozialismus gibt. Es gilt gemeinhin als bedeutender schriftlicher Zeitzeugenbericht, der ab seinem Erscheinen breit rezipiert wurde. Das Tagebuch stellt ein Zeugnis über die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes dar und zeigt gleichzeitig entwicklungspsychologische Aspekte einer jungen Frau in Isolation. Somit bietet das Werk für verschiedenste Disziplinen ein Erkenntnismoment und war schon häufig die Grundlage von Auseinandersetzung in anderen Medien und sogar Kunstformen wie Film oder Theater.
Anne Frank House VR ist ein Lernspiel zur NS-Zeit und zum Thema Antisemitismus. Es funktioniert primär über die Vermittlung eines Erinnerungsortes und von historischen Informationen. Der/die Spieler*in kann zwar durch Handlungen auch geringen Einfluss auf die Umgebung nehmen (z. B. Gegenstände greifen und aus der Nähe betrachten), jedoch wird vor allem die Enge und die Bedrücktheit des Versteckes in den Vordergrund der Vermittlung gerückt. Über die VR-Technologie soll ein möglichst authentisches Erlebnis angeboten werden, auch für Personen, die nicht die Möglichkeit haben, das Anne Frank Haus in der analogen Welt zu besuchen.
Dass hier die Opfer des Nationalsozialismus durch das Tagebuch der Anne Frank als historische Quelle geleitet selbst zu Wort kommen, ist ein weiteres Alleinstellungsmerkmal von Anne Frank House VR.
Diskussionspunkte
Anne Frank House VRwurde positiv aufgenommen und bietet durch den sensiblen Umgang mit seiner Thematik wenig Anlass für kontroverse Debatten. Das Vermittlungskonzept im Hintergrund ist klar ersichtlich und korrespondiert gut mit den bereits beschriebenen Inhalten.Dass dieSicht der Opfer des Nationalsozialismus gewählt wurde, die auch unmittelbar durch Anne Franks Perspektive zu Wort kommt, kann positiv hervorgehoben werden und im Rahmen einer Diskussion mit üblichen, eher auf kriegerische Auseinandersetzungen mit den Tätern fixierte Spielerfahrungen kontrastiert werden. Als weitere Besonderheit liegt hier die Perspektive einer Jugendlichen vor, was gerade für jüngere Zielgruppen mehr Möglichkeiten der Identifikation bietet.
An der genutzten VR-Technologie entbrennen oft Fragestellungen zur Ethik des immersiven Nachvollzugs von Opfererfahrungen sowie zu einer befürchteten Ersetzung von realen durch virtuelle Erlebnisse. Da Anne Frank House VR jedoch auch hier sehr vorsichtig mit den Möglichkeiten der Technologie umgeht und sich auf das ruhige Erleben eines historischen Raumes konzentriert, bietet sich hier ebenso hauptsächlich die kritische Konstrastierung mit actionlastigen VR-Spielen wie Medal of Honor: Above and Beyond (2020) an.
Einsatzmöglichkeiten
Anne Frank House VR kann in verschiedenen Settings eingesetzt werden, vor allem durch den relativ einfachen Spielablauf und das Nachempfinden der historischen Welt. Aus pädagogischer Sicht sollte dennoch das Tagebuch von Anne Frank rezipiert werden, vor allem da durch das Spiel die Bereiche Quellenkritik, Perspektivität und die besondere Beschaffenheit von Ego-Dokumenten besonders virulent werden. Das Spiel allein kann diese Aspekte nicht ausreichend behandeln und es muss medienkritisch die Tatsache dekonstruiert werden, was eine virtuell erschaffene, aber authentisch wirkende Welt mit dem/die Nutzer_innen und seiner/ihrer Wahrnehmung historischer Zusammenhänge macht.
Grundsätzlich ist für das Spiel eine VR-Brille der Firma Oculus notwendig, was mit erhöhtem Vorbereitungs- und Kostenaufwand verbunden ist. Durch die geringen Anforderungen von Anne Frank House VR reichen jedoch bereits vergleichsweise günstige Einstiegsmodelle wie die Oculus Quest.
Das Spiel sollte am besten in einen projektorientierten Unterricht eingebaut werden und muss zu diesem Zweck nicht unbedingt selbst gespielt werden. Auch Let’s Plays auf YouTube können bereits einen ausreichend Eindruck vermitteln, auch wenn dabei die immersive Qualität der Virtual Reality verloren geht. Für den Schulunterricht könnte es besonders spannend sein, einerseits das Tagebuch zumindest in Auszügen zu lesen und andererseits das Spiel (entweder spielend oder in Videos) zu verwenden und die beiden Quellentypen (digital und analog) gegenüberzustellen und auf ihren Erkenntniswert hin zu überprüfen. Gefördert wird dadurch nicht nur die Medienkompetenz, sondern auch das Bewusstsein zum Thema Quellenkunde allgemein. Hilfreich könnte auch ein Medienwechsel sein, beispielsweise die Lebensstationen von Anne Frank auf einem Zeitstrahl oder in Form einer Google Maps-Karte darzustellen, um sich sozusagen von der Quelle selbst zu distanzieren und sich selbst einen Überblick zu schaffen.
Weiterführendes Material
- Otto Frank, Hg., Anne Frank Tagebuch, Frankfurt am Main 2001.
- David Barnouw, Anne Frank, Vom Mädchen zum Mythos, München 1999.
- Stephan Friedrich Mai, Alexander Preisinger, Digitale Spiele und historisches Lernen, Frankfurt am Main 2020.
Zitierempfehlung
Hofer, Lisa Marie. „Anne Frank House VR“. Datenbank Games und Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, 15.12.2021. [URL], zuletzt aufgerufen am: [Datum]